Nach dem etwas unorganisierten Einchecken an der Union Station sitzen wir in unseren Ledersesseln der Economy Class (früher: Holzklasse). Es gibt zwei Wagen, aber die Anzahl der Leute wird immerhin auf 100 Personen beschränkt, damit man sich nicht ganz so wie in der Sardinenbüchse fühlt. Neben der Ledersitzklasse gibt es noch eine teure Billigschlafwagenklasse, eine bessere Schlafwagenklassen und eine noch bessere Schlafwagenklassen. Das ist aber nicht das Ende des Zuges (bislang etwa 14 Wagen) sondern es gibt noch zwei Prestigewagen mit Bett in Königinnengröße, Dusche und freiem Alkohol.
Jede Klasse hat einen eigenen Aufenthaltswagen, allerdings können wir nur über unseren Bereich berichten, da Tourismus zwischen den Klassen nicht erwünscht ist. Die Leute der Ledersitzklasse lesen auch immer brav das Schild, aber die Leute der besseren Klassen m?ssen durch den Wagenbegleiter zur?ckgepfiffen werden. Das geht so:
Tourist, Klasse Leder+1: Ist das die Economy Class? Zugbegleiter: Ja, das ist die Economy Class. Es ist ein Wagen mit Sitzplätzen. Es gibt nichts besonderes zu sehen. Tourist: Aber ich wollte nur .. Zugbegleiter: Es ist einfach nur ein Wagen mit Sitzplätzen. Tourist gibt auf, ohne dass der Zugbegleiter direkt nein sagen muss. Eine Kunst für sich, vielfach hier schon praktiziert gesehen.
Unser Aufenthaltsbereich besteht aus einem oberen Bereich mit gl?sernem Dach und ollen Sofasitzen. Diese, wie auch der Rest des Zuges, stammen noch aus den 50ern. In den 80ern wurde mal general?berholt. Seitdem gab es keinen Teppich-, Bezugs-, oder Ger?tschaftenwechsel. Unser sehr mitteilungsfreudiger Zugbegleiter schätzt, dass die Wagen es noch maximal 10 Jahre machen. Die Begrenzung der Personen hat auch damit zutun. Wir sitzen gern im bistro-artigen Abteil. Da sitzen auch die Zugbegleiter und plauschen. Man hat Platz, es gibt Zugang zu Wasser, Toaster und Samovar. Was brauchen wir mehr?
Wir unterhalten uns längere Zeit mit unserem Zugbegleiter, der auch tatsächlich Züge liebt. Er probiert auch Züge weltweit aus. Das kuriosiste war eine Fahrt für 5 Cent von Alexandria nach Kairo. Da mußte er sich außen auf die Lokomotive setzen und gut festhalten. Was die kanadische Bahn angeht lernen wir, dass der Zug immer noch Lebensader für viele, viele Ortschaften ist. Etliche sind ausschließlich über den Zug erreich- und belieferbar. Manche dieser Orte haben nur wenige dutzend Einwohner. Das sind alles Bedarfshalte, die man direkt beim Ticketbuchen schon ank?ndigt.
Beim Rausschauen aus dem Fenster können wir bestätigen, dass die Gegend menschenleer ist. Wir sehen mehr Biberburgen als Häuser. Der Trend von sumpfigem und seen- bzw. flussreichem Gebieten rechts und links der Gleise bleibt uns auch nach 24 Stunden noch erhalten. Allerdings haben sich die Ökosysteme geändert. Glatzenserial gesprochen, haben wir den Sander erreicht und langsam das Urstromtal durchquert. Wie in Brandenburg dominieren Nadelbäume. Interessanterweise sehen wir viele Koniferen. Ob diese hier heimisch sind? Ohne Internet können wir nur Vermutungen anstellen. Nachtrag: Es handelt sich um die Tuya Occidentales, die ist tatsächlich in Ostkanada zu Hause. Apropos Internet. Angeblich soll auch bald die Kreditkarte nicht mehr funktionieren. Der offzielle nächste (und per Lautsprecher durchgesagte) Internetpunkt nach Toronto ist Winnipeg.
Was ist anders im Vergleich zur Transsib? Es gibt mehr Teiche mit Seerosen und insgesamt viel mehr Wasser. Die Meilensteine (ja, der Zug nutzt weiter das alte brittische Längensystem) zählen nach jedem Bahnhof wieder neu hoch, wogegen in der Transsib die 8000 km plus ja von Moskau aus bis Wladiwostok hochgezählt werden. Die Zeit im Zug folgt der lokalen (und nicht einer Moskauer). Wir wechseln auf unserer Fahrt aber nur einmal die Zeitzone von östlicher zu zentraler Zeit. Damit sind wir 7 Stunden gegenüber Berlin und Oslo hinterher. Im Gegensatz zur fast durchgängig zweigleisigen Transsib ist die kanadische Zugführung bis auf weniger hunder Kilometer eingleisig. Deshalb gibt es etwa alle 20-100km Nebengleise, so dass Züge einander passieren können. Wir warten gefühlt alle halbe Stunde.
Wir haben auch eine Insiderbeobachtung gemacht: Russische Wagen werden mit 9 Stellen durchnummeriert. Den Kanadiern reichen vier. Ansonsten fahren wir auch Zug Nr. 1 und alle ungeraden Zugnummern stehen für Züge in Ost-Westrichtung (oder Nord-Süd, gibt es aber nur einmal von Churchill nach Winnipeg). Die geraden Nummern dann für die Züge in entgegengesetzter Richtung. Kommen wir noch zur Fragen der Fragen: Wie kommt man mit eisigen Wintertemperaturen klar? Gehört die Axt wie bei den russischen Kollegen zur Standardausrüstung? Nein, dass zwar nicht, aber es gibt an Board ein Extra-Zwischenabteil mit allerlei Gegenständen zum Wärmen falls der Zug mal im tiefen Winter stehen bleibt. Das ist 2018 zu Weihnachten passiert. Sie haben dann Decken und so weiter ausgeteilt und versucht, noch so weit wie möglich in Richtung einer Stadt zu kommen bis der Zug dann völlig festgefroren war. Dann mussten alle aussteigen und wurden über die Gleise evakuiert in die nächste 200-Leute-Kleinstadt. Dort hatten sie einen Gemeindesaal, der umfunktioniert wurde und Weihnachten wurden dann dort gefeiert. Erst zwei Tage später konnten sie weiter. Insgesamt ist die Wartung der Schienen sehr aufwendig, weshalb die Eisenbahn heutzutage ein Verlustgeschäft ist.
Interessanter Weise (ich würd sagen, wenn Engel reisen …) kommen wir 45 min vor der Zeit an, was die Zugbegleiter in große Ekstase versetzte, denn meist ist der Zug zu spät oder wird gar noch 3km vor Ziel für drei Stunden angehalten, damit ein Güterzug passieren kann. Uns freut es auch, denn wir haben Kohldampf, den wir mit leckeren Taccos aus dem städtischen Foodcourt (mhm – vielleicht Speiselandschaft?) zusammen mit einem lokal (also 10 m um die Ecke) gebrautem IPA entdampfen. Lecker.
der Zug hatte ordentlich Tempo drauf.
Ich freue mich schon auf den nächsten Bericht, tolle Infos und Aufnahmen
Gerade sind wir ja in Winnipeg und schauen uns die ehemalige Stadt im Zentrum Kanadas an. Etwas ganz besonderes, aber hier kaum erwähnenswert: wir haben mal wieder ein Gewitter erlebt. Sogar aus dem 10. Stock eines Wolkenkratzers. Zur Erinnerung: Im Land Thors gibt es quasi keine Gewitter (mehr).