Ein paar Tage waren wir in Winnipeg, das lange als Kanada`s zentrale Überlandkreuzung und Tor nach Westen galt. Das hatte mit Pelz- und Getreidehandel zu tun, die bedeutend waren in der Entstehung des modernen Kanadas. Später kam der Eisenbahnknotenpunkt hinzu, worüber wir bereits berichteten. Die Hudson-Bay-Company hatte eigentlich immer ihre Hände im Spiel. Die Stadt entstand zunächst als kleine Ansiedlung von ein paar Händlern. Aber nicht bei dem Stützpunkt der Hudson-Bay-Company, sondern etwas weiter weg. Der Nachteil des neuen Platzes war, es gab keine gepflasterte Straße und die Wagen fuhren regelmäßig durch die schlammige Wüste. Heute ist die Straße gepflastert und eine breite Magistrale – die sogenannte Hauptstraße (Main Street). Die Kreuzung „Portage und Main“ ist in ganz Kanada bekannt. Zum einen, weil es sich tatsächlich etwa um die zentrale Mitte Kanadas handelt, zum anderen, weil es einen Popsong namens „Präriestadt“ gibt, in dem Portage & Main die Hauptworte im gefälligen Refrain sind. Neil Young ist auf der Aufnahme mit seinem Kumpel aus Teeny-Zeiten auch dabei. Wer mal reinhören will, vor allem das Video mit den alten Aufnahmen lohnt sich:
Der Text ist auch ganz informativ über die Stadt:
Born and raised in a prairie town / Geboren und aufgewachsen in einer Präriestadt
Just a kid full of dreams / Ein Kind vollgestopft mit Träumen
We didn’t have much but an old radio / Wir hatten nicht viel außer einem alten Radio
Music came from places we’d never been / Musik kam von Orten, an denen wir nie waren.
Growing up in a prairie town / Aufwachsend in einer Präriestadt
Learning to drive in the snow / lernt man im Schnee zu fahren
Not much to do so you start a band / Es gibt nicht viel zu tun, so gründet man eine Band
And soon you’ve gone as far as you can go / Und schon bald bist du soweit gekommen, wie es geht
Winter nights are long, summer days are gone / Die Winternächte sind lang, der Sommer vorbei
Portage and Main fifty below / Portage & Main, minus 50 Grad darunter
Springtime melts the snow, rivers overflow / Der Frühling schmilzt den Schnee, die Flüsse laufen über
Portage and Main fifty below Portage & Main, minus 50 Gra d darunter
Portage and Main fifty below Portage & Main, minus 50 Grad darunter
All the bands in a prairie town / Alle Bands der Präriestadt
Try to outdo the next in line / versuchen, besser als die danach zu sein
Learning records out of Liverpool / Man lernt die Griffe aus Liverpool
Dreams of England on their Minds / Hat Träume von England im Kopf
On the other side of Winnipeg / Auf der anderen Seite von Winnipeg
Neil and The Squires played the Zone / Neil und seine Knappen
But then he went to play / Doch dann ging er, um zu spielen
For awhile in Thunder Bay / Für eine Weile in Thunder Bay
He never looked back and he’s never coming home / Er schaute nie zurück und kommt niemals heim
Just a band from a prairie town / Einfach eine Band aus einer Präriestadt
Sometimes we’d drive from coast to coast / Manchmal fahren wir von Küste zu Küste
One call from LA and we’d pack and fly away / Nur ein Anruf aus LA und wir würden pack und wegfliegen
But in our hearts we’re always prairie folk / Doch in unseren Herzen sind wir immer Leute aus der Prärie
Looking back at a prairie town / Schau ich zurück nach einer Stadt in der Prärie
People ask me why I went away / Leute fragen, warum ich ging
To fly with the best, sometimes you have to leave the nest / Um zu fliegen mit den Besten, mußt du manchmal das Nest verlassen
But the prairies made me what I am today / Aber die Prärie machte mich zu dem, was ich bin
Im Lied steckt eine ganze Menge an Information. Aber eins nach dem anderen. Zunächst mal zurück zur Hauptstraße. Die 50 darunter meint natürlich die Kälte im Winter. Gemessen wurde damals noch in Fahrenheit, was dann -45 Grad Kälte bedeutet, wobei das gefühlt nochmal deutlich darunter liegen kann, da über die Prärie eigentlich fast immer ein starker Wind geht. Portage & Main gilt daher auch als der kälteste Platz in einer kanadischen Stadt. Winnipeg ist daher auch die kanadische Windy City (in den USA ist das bekanntermaßen Chicago). Die andere Ähnlichkeit zu Chicago sind die vielen Gebäude und ersten Wolkenkratzer. Bei einer Stadttour lernen wir aber, dass es im Wesentlichen soviele in Winnipeg gibt, weil sie im Gegensatz zu anderen kanadischen Städten nicht großflächig wieder abgerissen worden sind.
Im Lied kommt auch Neil Young selbst vor. Er ist im Alter von 10 Jahren oder so mit seiner Mutter von Toronto nach Winnipeg gezogen. Und wie das Lied erzählt, es gibt nicht viel zu tun, also gründet man eine Band. Die erste Band von Neil Young hieß nicht „Verrücktes Pferd (Crazy horse)“ sondern „Neil und seine Knappen“ (Neil and The Squires). Es stimmt diesmal auch, dass er nicht nach Winnipeg kommt, denn eigentlich hatten wir ja Karten für ein Konzert. Aber der gute Mann und seine Bandmitglieder sind alle fast 80 und da sie weiter gut auf dem Damm bleiben wollen (und sollen), mußten aus Gesundheitsgründen alle Sommerkonzerte abgesagt werden. So bewahrheitet sich der Song auf ganz andere Art und Weise.
Es gibt auch ein echtes Lied von Neil Young (eins, wo er nicht nur Background-Sänger ist), in dem er von Winnipeg erzählt. Da war er dann schon über Thunder Bay (eine Kleinstadt, die in den 60ern viele Musiker angezogen hat) nach Los Angeles ausgewandert. Es ist das berühmte Lied „Zuckerberg“ oder Sugar Mountain. Das war ein Club in Winnipeg für Teenies. Ab 20 Jahren durfte man nicht mehr rein und dass war dramatisch. So sehr, dass das Lied entstanden ist. Marco aus Cottbus hat es immer auf der Gitarre gespielt und es hat 30 Jahre gebraucht, eh ich eine Verbindung nach Winnipeg hergestellen konnte. Nett. Das Lied ist auch deshalb klasse, weil man merkt, warum Neil Young in Nordamerika hauptsächlich als Liedermacher und weniger als Rockstar gilt. Der Text ist ihm sehr wichtig, dass andere mitsingen auch. Das wird auch in dieser Archivaufnahme sehr lustig deutlich: Neil Young offenbart, dass dieses Lied einen seiner schlechtesten Verse enthält und er bittet das Publikum mitzusingen, damit er seine Verlegenheit wortwörtlich überspielen kann: https://www.youtube.com/watch?v=q-8s88SzJqc
Doch kommen wir wieder auf Winnipeg zu sprechen. Also: zentraler Ort, in der Prärie gelegen, bitterkalt im Winter (gern auch Winterpeg genannt), immer windig, aber im Sommer ist das gut, da Temperaturen um die 30 Grad normal sind. Dann wäre da noch der Regen und der Schlamm (letzterer ist natürlich weitgehend aus der Stadt verbannt). Regen und Schlamm sind es nämlich, die namensgebend wirkten, schon in alten Indianerzeiten. Winnipeg ist nach dem gleichnamigen See „Winnipeg“ benannt, was nichts anderes als „Schlammiges Wasser“ heißt. Die schöne Symbolschrift in der Überschrift zeichnet genau das in einer der Cree-Alphabete. Auch wenn Winnipeg tatsächlich nicht an diesem großen See liegt, passt der Name, denn die Stadt liegt an der Gabelung zweier großer Flüsse. Einer heißt sogar der Rote Fluß, weil sein Wasser so stark schlammig ist. Rot kommt aus dem lehmigen Sediment, das in der Gegend vorherrscht und durch die Flüsse mitgeführt wird. Den Namen haben die Einwohner seinerzeit selbst gewählt. Sie fingen einfach irgendwann an, die heutige Hauptkreuzung „Winnipeg“ zu nennen.
Die schlammige Kreuzung ist dann offiziell 1873 zu Winnipeg geworden, nachdem noch ein paar Häuser dazu kamen. Sie wuchs sehr schnell, boomte regelrecht zwischen 1880 und 1920. Die Stadt war Magnet für Einwanderer aus aller Welt und wuchs in nur 20 Jahren auf 180.000 Einwohner an. Heute sind es etwa 750.000 und die Stadt nennt sich Metropole. Viele bekannte Architekten kamen und hinterließen ihre Spuren durch zahlreiche Bank- und Handelsgebäude mit eindrucksvollen Fassaden. Der Boom gründete sich bald nicht mehr nur auf Pelz- und Getreidehandel, sondern Metallverarbeitung und Lebensmittelerzeugung kamen hinzu.
Auf der einen Seite machte man viel Geld. Auf der anderen Seite reichte es den Arbeitern irgendwann, nur so wenig vom Kuchen abzubekommen. Ähnlich wie in Europa waren die ausgehenden Zehnerjahre des 20. Jahrhunderts durch Streiks und soziale Aufstände gekennzeichnet. 1919 kam es zum Generalstreik. 30.000 Arbeiter und Angestellte brachten die Stadt zum Stillstand. Für 6 Wochen. Es war der längste Streik in der kanadischen Geschichte und er hatte viele Auswirkungen auf die Entwicklung der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften in Kanada. Für die Streikenden ging es allerdings blutig aus. Am sogenannten blutigen Samstag ritt die Polizei in die Menge. Zwar gab es „nur“ 2 Tote und 30 Verletzte, aber die Streikenden kamen alle auf eine schwarze Liste. Das hieß, dass viele keine andere Chance hatten, als die Stadt zu verlassen. Hier die Lebensgeschichte von Helen Armstrong, sozusagen eine Rosa Luxemburg Kanadas.
Architekten nutzten wie erwähnt Winnipeg sehr gern und prominent als Spielwiese. Das schließt auch damals revolutionäre Ideen wie die der Stadt über drei Ebenen (multilevel city) nicht aus. Man experimentierte, denn sehr bald wollte keiner im Banken- und Handelsviertel mehr wohnen. In Nordamerika vereinsamten die Wolkenkratzer-dominierten Stadtzentren schon in den 40ern und 50ern. Man wollte das Fußvolk wieder zurück in die Stadt holen. Aber nicht, indem Autos verbannt wurden, sondern indem Wege über und unter den Straßen gebaut wurden. Die Idee der Untergrundstädte und Himmelstraßen war geboren. Heute umfasst das so entstandene Wegenetz mehrere Kilometer und es werden hunderte von Plätzen und Geschäften verbunden. Das ist tatsächlich auch eine gute Sache im kalten Winter. Allerdings hat es das Problem der ausgestorbenen Innenstädte aus vielen Gründen nur teillösen können. Man sieht viele leere Geschäfte und abends wird es schnell leer. Corona ist ein Grund. Ein anderer ist, dass die Geschäfte entlang der befahrenen Straßen plötzlich nicht mehr attraktiv waren, da sich alle nur noch in der Stadt im Inneren der Stadt aufhielten. Das wiederum führte dazu, dass auch die Innenstadt weniger attraktiv wurde. Hinzu kam dann noch die Wohnungs- und die Drogenkrise der letzten Jahre. Man sieht also im Inneren der Stadt, was man auch sonst in der Stadt so sieht. So ist eben das Leben. Es führte dazu, dass mehr Sicherheitspersonal gebraucht wurde, was wiederum teuer ist, und veranlasste, dass viele Geschäfte ab 18 Uhr schließen. Downtown wird also wieder entleert, wenn die Angestellten alltäglich aus dem Zentrum flüchten. Der Leerstand an Geschäften erinnert an manche europäische Innenstädte. Nichtsdestotrotz ist die Stadt in der Stadt interessant für ausführliche Spaziergänge. Einen guten Zeitraffer sieht man im Video.
Habe wieder mit Freude den Bericht gelesen. Die Geschichte mit dem roten Kleid für jede vermisste Indianerfrau war vor kurzem in einem kanadischen Krimi das große Thema. Ich freue mich auf den nächsten Bericht. Passt auf euch auf und bleibt gesund
Wo kam denn der Krimi? Die roten Kleider sind uns auch schon in Quebec begegnet …
ich weiß das nicht mehr, habe in meinen Erinnerungen gekramt ohne Erfolg
Wow, waren ja tolle Informationen . Super auch das Musikvideo und die stadtführung im Zeitraffer. Steckt ja wieder sehr viel Arbeit drin. Danke, dass ihr uns teilhaben lasst.
Viel Spaß und weiterhin gute Reise
Wir kommen nur nicht hinterher … Inzwischen sind wir in Warner. Morgen gehts zum Writing-on-stone-Park. Indianische Steinmalereien. Sind mal gespannt. …